Carmen Stucki Carmen Stucki

Alltag mit Korrekturmodus

Die Verkehrsampel leuchtet rot. Ich stehe am Strassenrand und warte.

Die Verkehrsampel leuchtet rot. Ich stehe am Strassenrand und warte. Meine Augen scannen die Menschenmenge vis-à-vis und nehmen ein paar Geschäftsleute auf Feierabendkurs, eine alte Frau mit lilafarbener Resthaarpracht, einen Haufen übermütiger Teenies und einen ausgemergelten Zeitschriftenverkäufer wahr.

Er ist mir in dem Stadtteil schon ein paar Mal aufgefallen. Stundenlang steht er vor dem Haupteingang der Einkaufspassage und versucht, seine Hefte loszuwerden. Drei Franken pro Ausgabe gehen zu seinen Gunsten; so steht es jedenfalls auf der Frontseite des Journals geschrieben. Unsere Blicke kreuzen sich. Die Ampel zeigt immer noch rot. Zeit für mich, ihn etwas genauer anzuschauen. Ich bin vorsichtig, möchte ihn nicht anstarren, denn er fällt auf. Derweilen spricht er Vorbeieilende an – immer freundlich, immer mit einem Lächeln, das freie Sicht auf kaputte Zahnreihen gewährt. Mit dem linken Arm klemmt er einen dicken Zeitungsstapel an seine Hüfte, mit dem rechten fuchtelt er wild umher, unentwegt bemüht, auf sich aufmerksam zu machen. Ich getraue mich nicht, die paar wenigen Finger zu zählen, die er noch an seinen Händen hat. Mein Blick gleitet stattessen hinunter zu seinen Füssen, mit denen auch etwas nicht zu stimmen scheint. Er steht in zu grossen Flip-Flops da und ich sehe, dass auf der einen Seite, ausser einer Ferse nicht allzu viel übriggeblieben ist von dem was man ,Fuss’ nennt. Sein Anblick macht betroffen und ich frage mich, ob ich wirklich wissen möchte, welchen Umständen er seine Handicaps zu verdanken hat.

Das Lichtsignal wechselt die Farbe. Ein gegenseitiges Zebrastreifenüberqueren – begleitet von akustischem Tingel – setzt ein. Als ich auf der anderen Seite angekommen bin, steht der Verkäufer der Arbeitslosenzeitung direkt vor mir. Seine dunklen Knopfaugen suchen meinen Blick. Ich weiche aus und noch bevor er mich ansprechen kann, nehme ich ihm diese Gelegenheit, schüttle wortlos den Kopf und ziehe an ihm vorbei.

Sofort bereue ich mein Verhalten – ich hätte freundlich reagieren können. Er ruft mir nach: ,Schönen Tag, Madame’. Das gibt mir den Rest. Mein schlechtes Gewissen steigt rasant; das Ganze schreit nach einer Korrektur, denn ich wollte das so nicht.  

Da ich - seit wir mit Corona leben - kein Bargeld mehr mit mir herumtrage, laufe ich schnurstracks zum nächsten Bancomat, lasse hundert Franken von meinem Konto abbuchen und kaufe am nahegelegenen Kiosk ein Pack Kaugummi, um rasch zu etwas Kleingeld zu kommen. Dann trete ich den Rückweg an.

Er steht immer noch an derselben Stelle - der Zeitungsmann - und schaut mich an: ,Surprise, Madame?’ ,Gerne’, antworte ich und strecke ihm eine Zehnernote entgegen. Noch bevor er versucht, mit seinen wenigen Fingern, Kleingeld aus seiner Geldbörse zu klauben, sage ich: ,Passt so. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend’ und entferne mich. Aus meinem Blickwinkel kann ich sein überraschtes Gesicht noch für eine Sekunde wahrnehmen, bevor ich ein:,Vergelt’s Gott Madame’ höre.

Seit dieser Begebenheit lese ich das Journal immer wieder begeistert, denn es gibt denen, die sich öffentlich zu ihrer Arbeitslosigkeit bekennen indem sie die Hefte auf der Strasse verkaufen ein kleines Einkommen, eine Aufgabe und – eine Stimme.

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Der Kunde ist König – und der König ist tot

Eigentlich wollte ich bloss ein Buch von St. Gallen nach Düsseldorf schicken.

Eigentlich wollte ich bloss ein Buch von St. Gallen nach Düsseldorf schicken. Mit dem versandbereiten Speditionsgut stand ich am Postschalter, grüsste und schob das Paket unter der Glasscheibe durch. ,Haben Sie die Sendungsdaten schon erfasst?’, fragte mein Vis-à-vis. Was erfasst? – dachte ich mir und erklärte: ,Ich hätte gerne ein grünes Zolletikett, denn ich möchte ein Buch ins Ausland spedieren’. ,Das machen wir seit Januar 2020 nicht mehr’, belehrte mich die Frau unmotiviert und schob mir ein Informationsblatt zu. ,So erfassen Sie die Sendungsdaten online’ – stand drauf.

Ich kam mir vor wie jemand, der nach 20 Jahren im Knast versucht, sich draussen wieder zurechtzufinden; wollte eigentlich bloss von einer stinknormalen Dienstleistung Gebrauch machen. Trotzdem überflog ich kurz die Anleitung. ,Die Daten werden weltweit elektronisch erfasst und dem Bestimmungsland vorab übermittelt’- war da zu lesen. Beeindruckend. Deutschland ist also vorbereitet darauf, dass ein Buch von Frau Stucki aus St. Gallen nach Düsseldorf zu ihrer Kollegin nach Kaast verschickt wird. Nicht, dass ich eine bin, die mit Informationen geizt. Mir doch eigentlich egal, denn viel zu verstecken habe ich nicht. Was wirklich Fragen aufwirft, ist die sich rasant ausbreitende Digitalisierung und deren Folgen. Die Dame hinter dem Schalter sollte sich eigentlich dieselben Gedanken machen. Was wird sie in ein paar Jahren noch zu tun haben, wenn alles elektronisch geschieht? Möglicherweise eine Zeit lang noch alte Querulanten und Skeptiker bedienen, die sich gegen diese Entwicklung sträuben. Aber was, wenn die ausgestorben sind?

Ich erklärte, dass ich die erforderliche App nicht auf meinem IPhone habe – was nicht stimmt, aber ich rebellierte gerade. Deshalb bat ich sie, den Vorgang doch für mich auszuführen. Die Post macht sowas noch – aber für drei Zusatz-Franken – hiess es auf dem Formular. Ich erklärte mich mit der Mehrausgabe einverstanden und die Angestellte waltete ihres Amtes. Das Paket machte sich auf seinen Weg und ich fuhr nach Hause.

Etwas später dann – die Neugier war grösser als mein Unmut – nahm ich das Informationsblatt nochmals zur Hand, scannte den Code und sah, was es da alles zu lesen gab. Was für eine Flut von Informationen. Es fühlte sich an, als ob ich bei einer 800-er Nummer anrufen würde. Erst endlose Fragen, die es mittels Tastenwahl zu beantworten gab; dann, nach zu langer Zeit endlich die Stelle, an der man eingeben konnte, was, zu welchem Zweck und zu welchem Preis man zu versenden gedenke. Ich malte mir aus, wozu die Schalterhallen der Post dereinst wohl genutzt werden könnten, wenn die Angestellten wegrationalisiert sind? So auf die Schnelle fiel mir da nur ein Mega Take-Away ein; gross genug sind diese Räume ja. Aber dafür haben die Digitalisierer sicher auch schon eine tolle Lösung bereit.

Ich habe irgendwo gelesen, dass immer mehr Menschen diesen Planeten bevölkern werden und immer weniger Arbeit zu verrichten sein wird. Man darf also gespannt sein, was da noch alles auf einen zukommt. Dienstleistungen jedenfalls – werden wohl oder übel durch Do it yourself ersetzt. So ein Zwanzig-Frankenbuch kostet übrigens auch zwanzig Franken, bis es in Düsseldorf ankommt. Wenn fliegen aber inskünftig noch billiger wird, dann werde ich das Geschenk zum nächsten Geburtstag persönlich vorbeibringen; die Post hat dann nichts mit mir zu tun und Susanne freut sich bestimmt auch.

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Kein Brot für Brüder

Seit dem Lockdown schätze ich viele Dinge im Alltag mehr als noch zuvor.

Zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown nutzte auch ich mit meinem Partner die Möglichkeit, wieder einmal ein Restaurant zu besuchen. Wir freuten uns sehr darauf und schätzen den Umstand sogar, dass im Lokal mehr Platz vorhanden war.

Keine Schulter-an-Schulter-Konsumation; stattdessen gastronomische Wohlfühlmomente – umständehalber sogar entschleunigt. Vor der Pandemie war für mich das Betreten oder Verlassen eines Restaurants - besonders in der Winterzeit - häufig ein nicht zu unterschätzendes Vorhaben. Sich im Labyrinth der Tische unfallfrei zum Sitzplatz zu schlängeln und dabei weder mit der Handtasche, geschweige denn mit der Daunenjacke Gläser umzustossen oder Tischtücher mitzuziehen – war immer wieder eine Herausforderung.

Wir sassen also in einer modernen Gaststube und studierten die Speisekarte.

Orientalischer Salat, Auberginenkaviar, Humus und Joghurt – stachen mir ins Auge und sandten eine wohlwollende Botschaft an meine Magengegend. Vorweg eine Kürbis-Fenchelsuppe, aber nur der Neugier wegen, denn ich wäre nie so mutig, diese beiden Geschmacksrichtungen miteinander zu kombinieren. Mein Freund Paul bestellte den Orientalischen Salat als Vorspeise und wählte zum Hauptgang ein Beefsteak Tatar.

Bald schon wurde in einer einfachen Keramikbowle meine Suppe gereicht. Fast schon etwas neidisch dagegen machte mich der Auftritt von Pauls Teller; eine Inszenierung die zweifelsohne als äusserst gelungen und appetitanregend bezeichnet werden durfte.

Der Blick zurück in meine Suppenschüssel dagegen stimmte mich etwas nachdenklich, denn der Pegelstand löste die Frage aus: Wer hat da bereits genascht? Das bescheidene Stück Brot dazu, machte die Sache auch nicht besser. Mein Partner hingegen schien mit seiner Wahl glücklich zu sein, was mich milde stimmte, in Anbetracht der Tatsache, dass ich bald schon den selben Salat geniessen dürfte.

Dann – nach einer Pause – war es Zeit für den Hauptgang. Etwas konsterniert blickten wir schon, als auch Paul in seinem Brotkorb bloss ein Mini-Baguette vorfand. War Tatar nicht die Mahlzeit, zu welcher man früher Toast und Butter à discrétion reichte?

Beim Blick auf mein Essen war klar, dass der einzige Unterschied zwischen Vor- und Hauptgangsalat im Preis lag, die Menge war exakt die gleiche.

Als wir dann mehr Brot bestellten, hiess es: ,Möchten Sie ein oder zwei Stück?’ Gehörte Brot neu in die Kategorie ,knappe Güter’, fragten wir uns. Wenn ja, was würde das für Auswirkungen auf die Fonduezeit haben?

Wir beschlossen etwas enttäuscht, auf eine Nachspeise zu verzichten, bestellten zwei Tassen Kaffee und die Rechnung. Die kam dann erwartungsgemäss grosszügig daher.

Nur 24 Stunden später - am Bahnhof in Visp. Wir mussten eine Stunde auf den Anschlusszug warten und taten dies in der nächstgelegenen Pinte: volle Teller, einfache Küche, herzliche Bedienung und - bis kurz vor dem Servieren des Kaffees immer mit dabei - ein Körbchen, randvoll mit Brot. Keine Hundert Franken hat uns das Essen gekostet und dieses Mal machten wir uns satt auf den Heimweg.

Einverstanden: Visp ist nicht Bern, aber Hunger ist Hunger.

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Zuggeflüster

,Martha hört auch nicht mehr gut’, wirft eine weibliche Stimme hinter mir in die Stille des Zugabteils.

,Martha hört auch nicht mehr gut’, wirft eine weibliche Stimme hinter mir in die Stille des Zugabteils. Drei Personen sind in Winterthur eingestiegen. Bis jetzt war ich allein im Wagon. Sie hantieren und rumoren noch eine Weile mit Taschen und Jacken, bevor sie endlich ihre Plätze einnehmen. Ich habe mich im Lauf der Corona-Zeit an Ruhe und Leere gewöhnt; habe sie schätzen gelernt und wäre auch jetzt lieber ungestört geblieben.

Immer Freitags, fahre ich direkt nach der Arbeit zwei Stunden mit der SBB Richtung Mittelland – ohne Umsteigen zu müssen. Diesen Zeitrahmen liebe ich, denn er gibt mir die Möglichkeit, mein Betriebssystem herunterzufahren und in den Wochenendmodus zu schalten. Am Ziel angekommen, ziehe ich meinen Koffer über die gepflasterten Strassen der Altstadt. Das ratternde Geräusch der Räder ist mein akustisches Symbol für Freiheit – wenigstens für zwei Tage.

,Beim Vater waren wir 60 Leute’, fährt die Frau fort, ,hatten aber nur 40 Essen bestellt. Drum habe ich dieses Mal sicherheitshalber mehr Salat geordert’. ,Der Beinschinken war aber sau gut’, entgegnete eine männliche Stimme. Die dritte Person schweigt.

Mir ist sofort klar - die Leute kommen vom Begräbnis einer Mutter. Friedhofsstimmung macht sich breit. Sie alle wurden mit dem Lebensende konfrontiert und hängen nun ihren Gedanken nach. Die einen laut – die anderen leise.

Sie fährt fort: ,Ich bin froh, ist es erledigt’. Keiner erwidert etwas

Die Wortführerin meldet sich erneut: ,Marianne sah gut aus – ich bewundere sie dafür, wie sie ihr Leben meistert. Ihr Pferd starb nämlich im April. Sie hat aber noch zwei Ponys’.

Ich muss schmunzeln. Die Frau wirft in unregelmässiger Regelmässigkeit Gesprächsfetzen in die Runde und merkt nicht, dass ihre Begleiter nicht reden wollen. Ob die anderen auch der Meinung sind, dass Marianne nicht zu traurig über den Verlust ihres Pferdes zu sein braucht, weil sie ja noch zwei Ponys hat, die sie trösten? Ich werde es nicht herausfinden, denn sie schweigen erneut.

Der Mann des Trios steht auf und geht an mir vorbei zur Toilette. Ich schätze, er ist mit der Quasselstrippe verheiratet oder liiert. Als er wieder am Platz ist, fährt sie fort. ,Ich esse jetzt ein paar Trockenfrüchte, die machen nichts’.

 Da haben wir’s. Sie – ich taufe sie jetzt Maya – scheint wohl gegen die Pfunde zu kämpfen. Trockenfrüchte auf der Waage haben zwar nur dann keinen Einfluss auf die Anzeige, wenn sie nicht gezuckert wurden, aber das wird Maya sicher auch wissen. Sie wird wohl am Leichenmahl ordentlich Beinschinken geschaufelt haben, zu dem man traditionell Kartoffelsalat in Mayonnaise reicht. Eine Mahlzeit also, die kalorientechnisch in der Tat nach Trockenfrüchten schreit.

,Hast du die Hände gewaschen?’, fragt Maya nun. In diesem Moment wird mir klar, wer der Dritte im Bunde ist. Es muss ihr Sohn oder die Tochter sein. Ja, ich bin mir sicher. Maya ist Mutter, denn nur Mütter fragen nach dem Toilettengang, ob man sich die Hände gewaschen hat’.

Der Zug hält. Die drei laufen an mir vorbei und steigen aus. Jackpot. Maya, eine vollschlanke Blondine schlängelt sich durch die Sitzreihen. Hinter ihr der Mann, bei dem man nicht weiss, ob er die Hände gewaschen hat. Und zuletzt eine etwa dreissigjährige Frau, die Maya wie aus dem Gesicht geschnitten ist und offensichtlich keine Lust hatte, etwas von sich zu geben.

Das Abteil füllt sich langsam wieder, aber es bleibt still. Der Zug fährt weiter und ich freue mich auf das Geräusch meines Koffers.

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