Alltag mit Korrekturmodus
Die Verkehrsampel leuchtet rot. Ich stehe am Strassenrand und warte. Meine Augen scannen die Menschenmenge vis-à-vis und nehmen ein paar Geschäftsleute auf Feierabendkurs, eine alte Frau mit lilafarbener Resthaarpracht, einen Haufen übermütiger Teenies und einen ausgemergelten Zeitschriftenverkäufer wahr.
Er ist mir in dem Stadtteil schon ein paar Mal aufgefallen. Stundenlang steht er vor dem Haupteingang der Einkaufspassage und versucht, seine Hefte loszuwerden. Drei Franken pro Ausgabe gehen zu seinen Gunsten; so steht es jedenfalls auf der Frontseite des Journals geschrieben. Unsere Blicke kreuzen sich. Die Ampel zeigt immer noch rot. Zeit für mich, ihn etwas genauer anzuschauen. Ich bin vorsichtig, möchte ihn nicht anstarren, denn er fällt auf. Derweilen spricht er Vorbeieilende an – immer freundlich, immer mit einem Lächeln, das freie Sicht auf kaputte Zahnreihen gewährt. Mit dem linken Arm klemmt er einen dicken Zeitungsstapel an seine Hüfte, mit dem rechten fuchtelt er wild umher, unentwegt bemüht, auf sich aufmerksam zu machen. Ich getraue mich nicht, die paar wenigen Finger zu zählen, die er noch an seinen Händen hat. Mein Blick gleitet stattessen hinunter zu seinen Füssen, mit denen auch etwas nicht zu stimmen scheint. Er steht in zu grossen Flip-Flops da und ich sehe, dass auf der einen Seite, ausser einer Ferse nicht allzu viel übriggeblieben ist von dem was man ,Fuss’ nennt. Sein Anblick macht betroffen und ich frage mich, ob ich wirklich wissen möchte, welchen Umständen er seine Handicaps zu verdanken hat.
Das Lichtsignal wechselt die Farbe. Ein gegenseitiges Zebrastreifenüberqueren – begleitet von akustischem Tingel – setzt ein. Als ich auf der anderen Seite angekommen bin, steht der Verkäufer der Arbeitslosenzeitung direkt vor mir. Seine dunklen Knopfaugen suchen meinen Blick. Ich weiche aus und noch bevor er mich ansprechen kann, nehme ich ihm diese Gelegenheit, schüttle wortlos den Kopf und ziehe an ihm vorbei.
Sofort bereue ich mein Verhalten – ich hätte freundlich reagieren können. Er ruft mir nach: ,Schönen Tag, Madame’. Das gibt mir den Rest. Mein schlechtes Gewissen steigt rasant; das Ganze schreit nach einer Korrektur, denn ich wollte das so nicht.
Da ich - seit wir mit Corona leben - kein Bargeld mehr mit mir herumtrage, laufe ich schnurstracks zum nächsten Bancomat, lasse hundert Franken von meinem Konto abbuchen und kaufe am nahegelegenen Kiosk ein Pack Kaugummi, um rasch zu etwas Kleingeld zu kommen. Dann trete ich den Rückweg an.
Er steht immer noch an derselben Stelle - der Zeitungsmann - und schaut mich an: ,Surprise, Madame?’ ,Gerne’, antworte ich und strecke ihm eine Zehnernote entgegen. Noch bevor er versucht, mit seinen wenigen Fingern, Kleingeld aus seiner Geldbörse zu klauben, sage ich: ,Passt so. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend’ und entferne mich. Aus meinem Blickwinkel kann ich sein überraschtes Gesicht noch für eine Sekunde wahrnehmen, bevor ich ein:,Vergelt’s Gott Madame’ höre.
Seit dieser Begebenheit lese ich das Journal immer wieder begeistert, denn es gibt denen, die sich öffentlich zu ihrer Arbeitslosigkeit bekennen indem sie die Hefte auf der Strasse verkaufen ein kleines Einkommen, eine Aufgabe und – eine Stimme.