Zuggeflüster
,Martha hört auch nicht mehr gut’, wirft eine weibliche Stimme hinter mir in die Stille des Zugabteils. Drei Personen sind in Winterthur eingestiegen. Bis jetzt war ich allein im Wagon. Sie hantieren und rumoren noch eine Weile mit Taschen und Jacken, bevor sie endlich ihre Plätze einnehmen. Ich habe mich im Lauf der Corona-Zeit an Ruhe und Leere gewöhnt; habe sie schätzen gelernt und wäre auch jetzt lieber ungestört geblieben.
Immer Freitags, fahre ich direkt nach der Arbeit zwei Stunden mit der SBB Richtung Mittelland – ohne Umsteigen zu müssen. Diesen Zeitrahmen liebe ich, denn er gibt mir die Möglichkeit, mein Betriebssystem herunterzufahren und in den Wochenendmodus zu schalten. Am Ziel angekommen, ziehe ich meinen Koffer über die gepflasterten Strassen der Altstadt. Das ratternde Geräusch der Räder ist mein akustisches Symbol für Freiheit – wenigstens für zwei Tage.
,Beim Vater waren wir 60 Leute’, fährt die Frau fort, ,hatten aber nur 40 Essen bestellt. Drum habe ich dieses Mal sicherheitshalber mehr Salat geordert’. ,Der Beinschinken war aber sau gut’, entgegnete eine männliche Stimme. Die dritte Person schweigt.
Mir ist sofort klar - die Leute kommen vom Begräbnis einer Mutter. Friedhofsstimmung macht sich breit. Sie alle wurden mit dem Lebensende konfrontiert und hängen nun ihren Gedanken nach. Die einen laut – die anderen leise.
Sie fährt fort: ,Ich bin froh, ist es erledigt’. Keiner erwidert etwas
Die Wortführerin meldet sich erneut: ,Marianne sah gut aus – ich bewundere sie dafür, wie sie ihr Leben meistert. Ihr Pferd starb nämlich im April. Sie hat aber noch zwei Ponys’.
Ich muss schmunzeln. Die Frau wirft in unregelmässiger Regelmässigkeit Gesprächsfetzen in die Runde und merkt nicht, dass ihre Begleiter nicht reden wollen. Ob die anderen auch der Meinung sind, dass Marianne nicht zu traurig über den Verlust ihres Pferdes zu sein braucht, weil sie ja noch zwei Ponys hat, die sie trösten? Ich werde es nicht herausfinden, denn sie schweigen erneut.
Der Mann des Trios steht auf und geht an mir vorbei zur Toilette. Ich schätze, er ist mit der Quasselstrippe verheiratet oder liiert. Als er wieder am Platz ist, fährt sie fort. ,Ich esse jetzt ein paar Trockenfrüchte, die machen nichts’.
Da haben wir’s. Sie – ich taufe sie jetzt Maya – scheint wohl gegen die Pfunde zu kämpfen. Trockenfrüchte auf der Waage haben zwar nur dann keinen Einfluss auf die Anzeige, wenn sie nicht gezuckert wurden, aber das wird Maya sicher auch wissen. Sie wird wohl am Leichenmahl ordentlich Beinschinken geschaufelt haben, zu dem man traditionell Kartoffelsalat in Mayonnaise reicht. Eine Mahlzeit also, die kalorientechnisch in der Tat nach Trockenfrüchten schreit.
,Hast du die Hände gewaschen?’, fragt Maya nun. In diesem Moment wird mir klar, wer der Dritte im Bunde ist. Es muss ihr Sohn oder die Tochter sein. Ja, ich bin mir sicher. Maya ist Mutter, denn nur Mütter fragen nach dem Toilettengang, ob man sich die Hände gewaschen hat’.
Der Zug hält. Die drei laufen an mir vorbei und steigen aus. Jackpot. Maya, eine vollschlanke Blondine schlängelt sich durch die Sitzreihen. Hinter ihr der Mann, bei dem man nicht weiss, ob er die Hände gewaschen hat. Und zuletzt eine etwa dreissigjährige Frau, die Maya wie aus dem Gesicht geschnitten ist und offensichtlich keine Lust hatte, etwas von sich zu geben.
Das Abteil füllt sich langsam wieder, aber es bleibt still. Der Zug fährt weiter und ich freue mich auf das Geräusch meines Koffers.